Wir spazierten durch die Stadt und kamen zu einem kleinen Flohmarkt. Dort trafen wir auf einen alten Mann mit einem winzigen Stand unter einem Baum. Nachdem ich mir angesehen hatte, was er anbot, drehte ich mich um und da fragte er mich etwas. Ich schüttelte den Kopf. Er zeigte mir mehr, aber es gab nichts, was mich interessierte. Ich war wieder im Begriff zu gehen. Nochmals die Frage. Ich schüttelte meinen Kopf, er schüttelte den Baum, einige Säcke fielen zu Boden. Erst einige Zeit und etliche Säcke später begriff ich, dass Kopfschütteln in Bulgarien ja bedeutet. Und Nicken nein und dass sein ganzer Stand in der Krone des Baumes untergebracht gewesen war…"

Wenige Minuten später sind wir vor der Kathedrale, der St.-Alexander-Nevski-Gedenkkathedrale, gebaut, um an die 200 000 Russen zu erinnern, die im Türkisch-Russischen Krieg starben. Das Resultat des Konflikts war die Unabhängigkeit Bulgariens vom Osmanischen Reich, liest L. in ihrem Reiseführer. Das Gebäude ist von gelben Ziegelsteinstraßen umgeben, die sich in alle Richtungen erstrecken. Der Turbokapitalismus präsentiert sich hier buchstäblich in Form eines dunkel verglasten Mercedes, der schnell um die Kathedrale fährt, gefolgt von einem Hummer. Daneben ist die St.-Sophia-Kirche und das Denkmal des Unbekannten Soldaten. Wir betreten sie nicht, weil wir von einem Flohmarkt auf der gegenüberliegenden Seite angezogen werden. Alle Stände scheinen von Vollzeithändler/innen okkupiert zu sein. Viel kommunistische Nostalgie: Uniformen, Medaillen und dekorierte Flachmänner.

Rote Sterne, wie gefrorene Feuerwerke aus Metall, soweit man sehen kann. Und II. Weltkrieg Souvenirs zusammen mit alten Fotografien, Postkarten und „handgemachten“ Mementos. Wir entdecken, dass es eine beachtliche Menge an alten Leicas zu kaufen gibt, oft „Spezialeditionen“ mit Gravuren, die behaupten, sie seien für die deutsche Luftwaffe oder Wehrmacht hergestellt worden, und eine, die L.s Augen zum Leuchten bringt. Sie trägt eine Aufschrift, die angeblich der Olympiade 1936 in Berlin gedenkt. Kontextuell verbindet sich das mit L.s Leni-Riefenstahl-Foto-Diptychon. Der Mann hinter dem Tisch sagt, er verkaufe die Kameras, eine in Messing, eine in Chrom, für einen Freund, der das Geld braucht, was leicht möglich ist, aber die Gegenstände selbst fühlen sich nicht echt an, obwohl der Verschluss ungefähr richtig klingt. Es ist ein Verkaufstrick in einer Zeitschleife, ein modernes „Spezialedition“-Marketingkonzept, das einen in eine vorgebliche Vergangenheit zurückwirft, es ist wie ein Netz für unvorsichtige Kunden in der Gegenwart.

Aber wir sind nicht sicher und der Preis, den er verlangt, ist nicht so niedrig, dass es sich lohnen würde sie zu kaufen, ungeachtet ihrer Geschichte(n). Wir entschließen uns, mehr darüber herauszufinden, und gehen essen.

Später, zurück im Hotel, füttert L. unsere Fragen über die Leicas ins Internet und bekommt eine Fülle an Informationen über Kameras und Personen zurück: von jenen, die glaubten eine klassische Leica um einen lächerlich niedrigen Preis zu kaufen und sich betrogen fühlten, bis hin zu denen, die wussten, dass sie unechte, überholte Kopien kauften, aber die Postversand-„Souvenir"-Kameras, die angeblich historische Bedeutung haben, als Hobby sammelten. Irgendwann werden sie vielleicht sogar „frühe Versionen von authentischen Leica-Fälschungen, wahrscheinlich aus dem letzten Jahrhundert“ in irgendeinem Auktionskatalog der Zukunft werden.

Anscheinend wurden die Leica-Fälschungen in der Sowjetunion hergestellt und haben eine lange Geschichte. Nach dem I. Weltkrieg und der Russischen Revolution entwickelte der Pädagoge Anton Makarenko seine Idee von der Erziehung von Kriegswaisen in kollektiven Institutionen (theoretisch und praktisch). Er ermöglichte einer Gruppe von 150 dieser Buben eine technische Ausbildung und war somit im Stande, eine Kamerafabrik zu eröffnen, die seit 1932 exakte Leica-II-Kopien produzierte. Diese waren die FEDs, benannt nach Felix Edmundovich Dzerzhinsky, dem Gründer des NKVD, die Organisation, die zum KGB werden sollte. Das NKVD übernahm 1934 die Kontrolle über die Fabrik. Die Kameras wurden bis weit in die 1950er produziert. Es sind wahrscheinlich diese Modelle, die zu Leica-Spezialeditions-Fälschungen mit olympischen Hoffnungen oder militärischen Absichten umfunktioniert worden waren. Es gibt noch einen anderen Ehrenanwärter, die Zorki 1 nämlich, die, außerhalb von Moskau produziert, auch eine Leica-II-Kopie ist.