Samstag, 29. Juli, Sofia

Nach dem Frühstück machen wir einen Spaziergang, vorbei an einem Zeitungsstand. Ich bin verwundert über die große Anzahl unterschiedlicher Zeitungen, verglichen mit der Armseligkeit der österreichischen Medienlandschaft, und denke über die Medienkonzentration oder, anders gesagt, über die Besitzverhältnisse nach. Dann gehen wir diagonal durch einen kleinen Park und über den Platz vor dem Parlament. L. zieht noch immer in Betracht die Olympia Leica zu kaufen, die Tatsache, dass sie nicht echt ist, ermöglicht es ihr vielleicht, die oberflächliche Bedeutung umzukehren, zu untergraben oder zumindest ein diskursives Feld zu eröffnen.

Auf der anderen Seite des Platzes steht eine Reiterstatue. „Zar Alexander II“, sagt L., „er war die treibende Kraft, die die osmanischen Türken 1878 aus Bulgarien hinausgedrängt hat.“
Wir gehen am EVN-Büro und am neu renovierten Grand Hotel Bulgaria vorbei. „Ich habe hier 2002 übernachtet, als es noch typischer Ostblock war. Ein riesiger Speisesaal mit diesen Treppen wie aus einem 1930er-Hollywood-Musical. In der kommunistischen Ära war es für Bulgar/innen gesperrt. Ich habe vor kurzem in Angelika Schrobsdorffs Buch Grand Hotel Bulgaria darüber gelesen.
Später liest sie mir die Passage vor: „… ein Restaurant mit hundertzwanzig Plätzen, einen Grill Nr. 1 mit sechzig und einen Grill Nr. 2 mit hundertfünfundfünfzig Plätzen, einen roten Salon mit sechzig Plätzen, eine Bierhalle mit hundertachtzig Plätzen, ein Café mit hundertfünfzig Plätzen, einen beigen Salon mit fünfzig Bar- und achtzig Salonplätzen, eine Hotelbar mit vierzig Plätzen. Ich hatte auf meinem Taschenrechner ausgerechnet, dass mir 895 Plätze zur Verfügung standen, und das verwirrte mich jetzt etwas. Es war wohl das beste, ich ging zuerst in den beigen Salon, um an der Bar mit fünfzig Plätzen einen Wodka zu trinken, und dann in das Restaurant mit hundertzwanzig Plätzen, um etwas zu essen. Es musste das Restaurant sein, in dem ich meinen ersten Heiratsantrag bekommen hatte.“

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Etwas weiter ist ein Park, in dem sich ein sehr seltsames geflügeltes Stück weißen Marmors mit einem Zitat von Ronald Reagan befindet. Wir setzen uns unter den Schatten einiger Bäume vor einen Springbrunnen, der inmitten eines quadratischen Beckens, das das Ivan-Vasov-Theater widerspiegelt, liegt. Wir rasten eine Weile, reden, schauen und hören zu. Es ist anders als in öffentlichen Parks in Wiens Innenstadt. Wie etwa die Gruppe von älteren Männern, alle über 50, die auf einer Bank sitzen und über etwas in einer Zeitung diskutieren. Und weil sie damit wild herumwinken und auf die Titelseite zeigen, glaube ich nicht, dass es sich um Sofias Fußballmannschaft handelt.

„Was hast du über Emerald City herausgefunden?“ frage ich L., mich auf ihre Reise letzte Nacht im Internet beziehend. „Zwei neue Sachen“, sagt sie, „die erste, dass die Menschen die Stadt als grün und kostbar sahen, weil sie grüne Brillen trugen, die Dollarversion der rosafarbenen Brillen, und zweitens basiert sie wahrscheinlich auf der Great White City, die für die Chicagoer Weltausstellung 1893 gebaut worden war. Es war eine der ersten Ausstellungen dieser Art, die mit Elektrizität beleuchtet wurde, dadurch leuchtete sie auch bei Nacht strahlend weiß.“ Zufällig war die Chicagoer Weltausstellung auch das erste internationale Ereignis dieser Art, an dem Bulgarien teilnahm (mit einem kleinen Stand mit Rosenöl, Tabak und anderen Produkten), und sie brachte auch eine der bleibendsten literarischen Figuren des Landes hervor, Bai Banio, der „Held“ des Romans Nach Chicago und zurück von Aleko Konstantinov. Danach gehen wir wieder Richtung Flohmarkt, überprüfen nochmals den Preis der Leica, kommen nicht über ein erstes Angebot hinaus und entdecken eine Schachtel mit alten Fotos. Wir kaufen einige, auch ein Weg, die Familie kennenzulernen…

Dann bemerken wir eine Hochzeitsfeier vor St. Sophia auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Braut sieht bulgarisch aus, der Bräutigam koreanisch oder vielleicht vietnamesisch. Wir sehen zu, wie die offiziellen Fotos gemacht werden, und gehen dann in die Kirche. Die Hochzeitsgesellschaft hat sie eben verlassen und wir sind mitten in einer eben stattfindenden Taufzeremonie.