Während wir hierher fuhren, sind wir auch einigen dieser mentalen Grenzen begegnet: „Europa“ für den „Balkan“ zu verlassen, gegen ein imaginäres Konstrukt anzurennen, das unendliche Formveränderungen durchzumachen scheint, sobald man die Hand ausstreckt und es zu definieren versucht. Es hat mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit einem verschachtelten, chinesischen Kästchen oder mit einer vielleicht passenderen historischen Metapher, einer russischen Puppe, der Matrioschka, deren Definition von innen und außen ständig wechselt. Zum Beispiel herauszufinden, was Bulgarien ist, war und sein will, führt unvermeidlich zu der Überlegung, was Griechenland konstituiert hat. Das Letztere ist bereits Teil der EU, Bulgarien wird es in naher Zukunft sein. Das wird zu einer neuerlichen Umgestaltung der politischen Grenzen führen, die größte Puppe wird wie eine Schachfigur nach Osten Richtung Bosporus bewegt werden. Das wird wieder einen Wechsel politischer Grenzen zufolge haben, wenn eine dieser potentiellen Puppen östlich nach Istanbul verschoben werden wird.
Andererseits wurde Bulgarien vor dem II. Weltkrieg immer als Teil des „Balkan“ angesehen (ich beziehe mich hier sowohl auf geografische wie auf kulturelle Konstrukte), wohingegen Griechenland im 19. Jahrhundert langsam sowohl geographisch als auch kulturell in das westeuropäische Vermächtnis eingeschrieben wurde.
Die politische Landschaft nach dem II. Weltkrieg fror jede Möglichkeit eines dynamischen Ost-West-Diskurses ein, überließ Bulgarien einerseits der übergeordneten Kategorie „hinter dem Eisernen Vorhang“ und hinterließ andererseits das „nicht so ganz Balkan“-Griechenland als einzigen „freien“ Repräsentanten des geografischen Balkans im Westen. Seit 1989 ist der Begriff „Balkan“ etwas weniger festgelegt, die Kriege, die den Zusammenbruch Jugoslawiens umgaben, haben ein Wiederaufleben der „Balkan“-Stereotype in Medien und Kunst provoziert. Gleichzeitig scheint es, auf Grund von vermehrten Kontakten in den Hotelkomplexen der Schwarzmeerküste und in Wintersportressorts sowie beim Kauf von Privathäusern, eine entsprechende Abschwächung der Stereotype zu geben, eine medial vermittelte Realität auf der einen Seite und persönliche Erfahrung auf der anderen. |
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Mein tägliches Pensum an Todorova letzte Nacht hat einen interessanten Aspekt dieses Themas berührt. Todorova zeigt auf, dass, während Griechenland ein Hauptziel für wohlhabende, aristokratische Reisende aus England wurde – was zur Konstruktion Griechenlands als Wiege der westlichen Demokratie führte und allgemeine Unterstützung für die Unabhängigkeit Griechenlands 1829 seitens der Briten hervorrief –, Russland fleißig ein Bulgarien als Wiege der slawischen Kultur mit dem orthodoxen Christentum, dem kyrillischen Alphabet usw. als Gemeinsamkeit konstruierte. Die etwas spätere westliche (britische) „Entdeckung“ der Bulgar/innen als eine unterdrückte christliche „Nation“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirkte einen Umschwung in der Politik, besonders nach den gut publizierten Massakern, die dem Aprilaufstand 1876 folgten, nämlich die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches beizubehalten, als eine Wahlstrategie, um Russland daran zu hindern, Zugang zum Mittelmeerraum zu bekommen.
Von einer historischen Langzeitperspektive aus gesehen, überqueren wir ständig Grenzen und Schichten: von einem antiken thrakischen Königreich zu einem römischen Verwaltungsdistrikt, von einer osmanischen Provinz zu einer unabhängigen Monarchie, von einem Parteilehen zu einer demokratischen Republik. Zeitweise in greifbarer Nähe.
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