Guard #8
Olga Chernysheva
Silbergelatine-Faserdruck
Edition 2/3 + 2 AP
157 × 107.5 cm (gerahmt)
2009
Ankauf 2010
Inv. Nr. 0206
Es sind die sozialen Gegensätze im postkommunistischen Russland, mit denen sich Olga Chernysheva in verschiedenen künstlerischen Medien immer wieder beschäftigt.1 Doch sie setzt bei ihrer einfühlsamen Recherche weder auf Bilder des obszönen Reichtums noch auf solche der totalen Tristesse: „Auf diese Extreme lasse ich mich gar nicht ein. Sie sind ohnedies unübersehbar und sprechen für sich selbst. Ich möchte hingegen immer nur das Normale analysieren. Das Normale wird fast nicht wahrgenommen.“2 Normalität spürt die Künstlerin auf, indem sie sich für scheinbar Nebensächliches Zeit nimmt und auf habituelle Details alltäglicher Situationen achtet. Dazu gehört auch eine für ihre Fotos und Videos charakteristische Grundstimmung der Freudlosigkeit. Zu ihrer Strategie des atmosphärischen Beobachtens meint die Künstlerin: „Wie viel ich auch aufnehme, ich habe den Eindruck, das Essenzielle nicht fotografiert zu haben, als würde ich irgendetwas dazwischen aufnehmen. Ich arbeite sehr bewusst mit dem Unwichtigen.“3
2009 stellte Olga Chernysheva in Moskau den Fotozyklus Guards vor, der fast lebensgroße Porträts von Wachpersonal zeigt. Wie schon im Sowjetsystem sind Wächter, gekennzeichnet durch sichtbare Unsichtbarkeit, im nachkommunistischen Russland omnipräsent. Damals wie heute verrichten sie ihren Dienst in einem Niemandsland, wie man es entlang von Grenzen oft findet. Sie sind Grenzwächter, Abstandhalter an Barrieren, welche die Gesellschaft zerschneiden. Diese mögen diffus erscheinen, sind aber immer real, denn sie trennen unerbittlich Innen und Außen, Macht und Ohnmacht, Einfluss und Ausschluss. Und doch vermittelt die Präsenz der Wächter vor allem symbolische Bedeutung, sind sie doch auch Prestigefaktoren: Ihre bloße Anwesenheit kommuniziert, dass ihre Dienstgeber wichtig sind und über Terrains gebieten. Sie sind Statisten in einem großen Spiel, dessen Sinn und Regeln sie nicht verstehen müssen.
Unauffälligkeit und Austauschbarkeit gehören zum Profil dieses paradoxen Jobs: Passivität und Inaktivität wird von Wächtern ebenso verlangt wie ununterbrochene Aufmerksamkeit. Olga Chernysheva sieht darin eine „sehr wertvolle Fähigkeit, [...] gleichsam im Energiesparmodus und stets bereit“4. Auch für Künstler und Künstlerinnen sei das eine durchaus brauchbare Fähigkeit.
Die Porträtierten werden nicht auf ihre soziologische Typologie reduziert. Denn die Bilder führen hinter die Rollenmasken, hinter Uniformen und Abzeichen. Dabei wird eine Differenz zwischen objektiver Bedeutung und subjektiver Verlorenheit deutlich: Wir treffen Menschen, die für Sicherheit zuständig sind, ohne Sicherheit auszustrahlen. Warum wirken sie so entleert? Was haben sie vor 10, vor 20 Jahren gemacht? Waren sie beim Militär, bei der Polizei? Haben wir Profis oder Amateure vor uns, die einen Nebenjob suchten, weil sie sonst nicht über die Runden kämen? Jedenfalls handelt es sich um Helden des Moskauer Alltags, denen Olga Chernysheva ein unheroisches Denkmal gesetzt hat.
Wolfgang Kos, 2011
1) Vgl. auch die Arbeiten Sites #1, #4 (2004), die 2005 von der evn sammlung angekauft wurden.
2) „Olga Chernyshewa im Gespräch mit Annemarie Türk“, in: KulturKontakt Austria, Bank Austria Kunstforum (Hg.), Olga Chernysheva. Innerer Dialog, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Nürnberg 2009, S. 34.
3) Zit. nach: Heike Eipeldauer, „Olga Chernyshewa. Innere Dialoge“, in: KulturKontakt Austria, Bank Austria Kunstforum (Hg.), Olga Chernysheva. Innerer Dialog, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Nürnberg 2009, S. 38.
4) Olga Chernysheva. Innerer Dialog, S. 35.
Literatur
KulturKontakt Austria, Bank Austria Kunstforum (Hg.), Olga Chernysheva. Innerer Dialog, Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Nürnberg 2009, S. 59.
WeiterlesenAusstellungen
Wallpaper #1, evn sammlung, Maria Enzersdorf, 2018
Now, At The Latest. Videos und andere Sehenswürdigkeiten aus der evn sammlung, Kunsthalle Krems, Krems, 2015
evn sammlung / institutionelle Präsentation, Viennafair, Wien, 2011
Publikationen
Now, At the Latest, Maria Enzersdorf 2015, S. 2
evn collection. 2006–2011, Köln 2011, S. 108–111