MASS
Clemens von Wedemeyer
DVD
Edition 3/10 + 1 AP
Bildformat: 16 : 9; 2' 40'', geloopt
1998
Ankauf 2010
Inv. Nr. 0209
Gibt man in Suchprogrammen den Namen „Wedemeyer“ gemeinsam mit dem Begriff „Video“ ein, finden sich fast keine relevanten Einträge. Zu solchen kommt man, wenn man mit „Film“ kombiniert. Dieser Unterschied ist nicht unwesentlich. Lange Zeit war man im Kunstbetrieb beim Umgang mit bewegten Bildern ziemlich achtlos, was die Klassifikation betraf (und zum Teil noch betrifft) und die Präsentationsbedingungen anging. „Video“ wurde zum Gummiwort für alles, was flimmert, und oft auch zur Entschuldigung für gestalterische Unbedarftheit. Seit den 1990er-Jahren aber kennt und schätzt man Filmkünstlerinnen und -künstler wie Isaac Julien, Sharon Lockhart oder Eija-Liisa Ahtila, die zwar im Kunstkontext ihre Werke präsentieren, dabei aber auf das Spezifische der Gattung Film Wert legen. Sie wissen über dessen handwerkliche Raffinessen ebenso Bescheid wie über dessen immanente Ästhetik und Theorie.
Der Grenzverkehr zwischen „Kunstfilm“ und bildender Kunst zeugt von der großen Sogkraft eines alles vereinnahmenden und mächtigen Kunstbetriebs. Zwar gibt es kein dominierendes Medium mehr, aber die Kunst steht als großes Sammelbecken zur Verfügung. Durch das Hereinholen eigenständiger und markttechnisch schwacher Nischendisziplinen wie des Experimentalfilms finden dessen Exponenten neue Bühnen und vor allem mehr Publikum. Filmemacher, deren Werke bei Biennalen zu sehen und in Galerien zu erwerben sind, unterliegen einer völlig anderen Marktlogik als über Festivals und Art-Kinos vertriebene Filme. Damit verändert sich auch ihr Referenzsystem. Clemens von Wedemeyer ist zwar in beiden Welten verankert – bei Kurzfilmtagen kann man seine Filme ebenso sehen wie in Kunsthallen –, doch ihre starke Beachtung verdankt sich dem Verstärkersystem Kunst. Zumeist wird er in den Medien Künstler genannt, manchmal „Künstler und Filmemacher“: „Kunst und Kino sind unterschiedliche Sprachen, die miteinander verwandt sind. Mich interessieren beide. Zusammen ermöglichen die beiden Sprachen heute eine Praxis, die neue Räume für neue Studien eröffnet.“1
MASS ist eine sehr frühe Arbeit.2 Doch sie ist bereits von jener Verschränkung von Dokumentarischem und Fiktionalem geprägt, die für Wedemeyer bis heute typisch ist. Der damals 25-jährige Leipziger Kunststudent setzte sich intensiv mit den Strategien des Experimentalfilms auseinander. Zu nennen sind speziell die Arbeit mit Found-Footage-Material und die Überlagerung der Bildinformation durch Techniken wie Zerkratzen, Unschärfe oder Verlangsamung. Die Filmsequenzen, die Wedemeyer für MASS genutzt hat, zeigen Massenaufmärsche und Demonstrationen der 1920er-Jahre. Diese dienen als Rohstoff für eine auf Passagen des sowjetischen Revolutionsfilms Panzerkreuzer Potemkin (1925) basierende Bildfolge, in deren Verlauf konkrete Straßenszenen sich in pulsierende Flächen aus Grau auflösen. Wedemeyer über seinen 3-Minuten-Loop: „Kaum hat sich der Blick des Betrachters einem Detail zugewandt, legt sich schon wieder Schicht über Schicht.“3
Auch die bildgestützte Geschichtsforschung versucht mittels Analyse derartiger dokumentarischer Filmquellen, aus dem Gewimmel der Menschen Strukturen von Massenveranstaltungen herauszufiltern – oder Antworten auf Fragen zu finden wie: Wo stand die Polizei? Wer lenkt die Massen? Wie kam es zu Gewalt und Panik? Aber auch solche Recherchen führen unweigerlich ins Niemandsland der Unschärfe.
Wolfgang Kos, 2011
1) Catrin Lorch, „Clemens von Wedemeyer“, in: frieze, Nr. 100, Juni/August 2006, S. 273.
2) Nachdem eingangs auf die Bedeutung des Filmischen hingewiesen wurde, sei erwähnt, dass Wedemeyers Opus 1 nicht als Film entstand, sondern digital als Video.
3) Clemens von Wedemeyer, Synopsis zum Video MASS.
WeiterlesenAusstellungen
Now, At The Latest. Videos und andere Sehenswürdigkeiten aus der evn sammlung, Kunsthalle Krems, Krems, 2015
Publikationen
Now, At the Latest, Maria Enzersdorf 2015, S. 3
evn collection. 2006–2011, Köln 2011, S. 222–224