O. T.
Johanna Kandl
Tempera auf Leinwand
170 × 243 cm
2011
Ankauf 2013
Inv. Nr. 0250
Die Arbeiten der Malerin Johanna Kandl sind ein brisanter Mix aus klassischer Technik, Medienkritik, Dokumentation und gesellschaftspolitischer Auflehnung. Seit vielen Jahren bereist, beobachtet und erlebt sie, gemeinsam mit ihrem Mann und professionellen Partner Helmut Kandl, den Osten Europas, bis hin zu seinen Rändern in Georgien, Aserbaidschan und Russland. Ihr Werk kommentiert die politischen Veränderungen der „Reformländer“ nach 1989, die neoliberalen Schocktherapien etwa, in denen nur noch die Gesetze des freien Marktes gelten sollten. Die Ergebnisse ihrer Recherchen übersetzt sie in ästhetische Aggregate, die über das Format des Sichtvermerks hinaus auch Reflexions- und Orientierungswissen vermitteln und das Visuelle als Erfahrungs- und Dialogfläche im Gebrauch haben.
Wie alle Bilder Johanna Kandls ist O. T. (2011) aus unmittelbarer persönlicher Erfahrung heraus nach einem Foto entstanden. Mit Helmut (damals Mitarbeiter des Stahlkonzerns voestalpine) besuchte sie in den 1970er Jahren die Bergbaustadt Zenica in Bosnien, nordwestlich von Sarajevo. Gemeinsam spazierten sie über den Marktplatz. Die Marktstunden waren vorbei, und leere Tischplatten auf Holzböcken präsentierten sich in strenger Ordnung. Eine Art serieller Konzeptnotation aus minimalistischen Farbfeldern und Diagrammen. Für die mediale Übersetzung der Fotografie in Malerei „beschriftet“ Johanna Kandl die Tische mit Namen von Künstlern, Philosophen, Wissenschaftlern und Politikern beiderlei Geschlechts. Sie tut dies mithilfe kleiner Holztäfelchen, die sie auf das Bild klebt – das Temperabild wird zu einer Collage: eine Kulturtechnik, die Sammeln voraussetzt, Sammeln von Material, aber auch Sammeln von Ideen, von Wissen, von Information. Johanna Kandl ordnet die Namen alphabetisch, wie im Personenregister einer Anthologie über die „big names“ in Kultur, Wirtschaft und Politik. So ergeben sich amüsante Nachbarschaften, Kant, Keynes und Lenin drücken gemeinsam die Schulbank. Die Künstlerin organisiert den Bildraum als Bühne für Geschichte und jene Geschichten, die sich aus dem zufälligen Nebeneinander von politischer Theorie und Kunst ergeben – von Hannah Arendt und Christian Boltanski, vom Philosophen Gilles Deleuze und dem Oligarchen Oleg Deripaska, von der Sozialpsychologin Marie Jahoda und Apple Gründer Steve Jobs. Man könnte von einer modernen Allegorie sprechen und von einem Historienbild, von optischen Diskursen und intelligenter Komposition. Das Wunderbarste an Johanna Kandls Malerei aber ist der Umstand, dass es sich um offene Einheiten handelt, um lässige Fragmente mit Potenzial für Interpretationen aller Art.
Brigitte Huck, 2015
WeiterlesenAusstellungen
Politischer Populismus, Kunsthalle Wien, Wien, 2015
Publikationen
evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 191–194