Am Fluß Orontes, Mai 2012
Róza El-Hassan
Gouache
63 × 46 cm (gerahmt)
2012
Ankauf 2012
Inv. Nr. 0242
Um den wichtigen zeichnerischen Aspekt im Œuvre von Róza El-Hassan in die evn sammlung zu integrieren, wurden drei Papierarbeiten aus verschiedenen Arbeitsphasen erworben. Zwei Skulpturen der Künstlerin, die elf Jahre zuvor in die Sammlung gekommen sind, stammen aus der Serie R. Thinking/Dreaming about Overpopulation, die ihren Ausgangspunkt im Kosovokrieg hatte. Modifikationen dieser Skulpturen wurden über mehrere Jahre hinweg in verschiedenen Medien und Techniken verarbeitet. Die auf dem Boden hockenden weiblichen Figuren transportieren dezidiert politische Fragen. Feminismus, Identität, soziale Probleme und die Auseinandersetzung damit sind zentrale Themen bei Róza El-Hassan.
Die kleinformatige Collage, entstanden zwischen 2001 und 2002, bezieht sich direkt auf die Skulptur R. Thinking/Dreaming about Overpopulation I. Aus einer Abbildung der Skulptur schneidet die Künstlerin den schwarzen Tschador heraus. Ohne den Stoff bleibt ein Umriss, der den orangen Ballon als Fruchthülle im Nichts schweben lässt.
Ohne Titel (Hypermoral) stammt aus einer Phase der größeren zeichnerischen Abstraktion, in der die Arbeiten oft mit einzelnen Wörtern oder Phrasen kombiniert werden. Auch der stärker materielle Umgang mit Papier als Werkstoff und gestaltendem Element spielt eine Rolle. Hier wird daraus eine zornige, düstere Arbeit mit verlaufenden Farbflächen in dunklen Tönen und schnell hingeworfenen Schriftzügen. Applizierte Papierstreifen verdecken den aquarellierten Hintergrund wie Zensurbalken. Bezieht sich die angesprochene Übermoral auf den widerspruchsvollen Umgang der Gesellschaft mit Moral oder ist der Begriff eher im Sinne von Georges Bataille und der fließenden Grenze zwischen Gut und Böse zu sehen?
Die dritte Arbeit thematisiert den unerträglichen Krieg in Syrien, auf den Róza El-Hassan, die syrische Wurzeln hat, mit hohem persönlichem Engagement reagiert. Zu sehen sind unregelmäßige konzentrische Kreise, inselartige Formen, und an zentraler Stelle das vertraute Friedenssymbol in knalligen Farben. Das Werk ist im Mai 2012 entstanden, noch im selben Monat wurde der UN-Friedensplan aufgekündigt und heftige Kämpfe erschüttern bis heute das Land. Der Name Orontes im Titel bezieht sich auf den Fluss Nahr al-Asi, der durch den Libanon, durch Syrien und die Türkei fließt. Viele Ausgrabungsstätten entlang des Flusslaufes fielen damals durch Zerstörung oder Raubgrabungen dem Krieg zum Opfer. Angesichts der bis heute andauernden humanitären Katastrophe in der Region sind diese Geschehnisse nur Nebenschauplätze. Doch offenbaren sie einmal mehr die durch und durch barbarische Fratze des Krieges.
Heike Maier-Rieper, 2015
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evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 122–127