Again Audience / Stage
Carola Dertnig
Rednertribüne nach A. M. Rodtschenko, Entwurf: Peter Karlsberger, Stahl und Holz
Edition 1/2
300 × 200 × 60 cm (Maße variabel)
2012
Ankauf 2013
Inv. Nr. 0258
Paris 1925: Das Gros des Publikums der Internationalen Kunstgewerbeausstellung ist vorwiegend mit Art-déco-Fantasien beschäftigt, während sich parallel dazu gestalterische Revolutionen ereignen. Le Corbusier stellt erstmals seine Idee der Wohnmaschine vor (Pavillon de L’Esprit nouveau) und die aus der Sowjetunion entsandten Staatskünstler Konstantin Melnikow und Alexander Rodtschenko lassen kühne konstruktivistische Entwürfe Wirklichkeit werden, Melnikow als Gestalter des sowjetischen Pavillons und Rodtschenko als Schöpfer des in klarem geometrischem Design gehaltenen Arbeiterklubs. Beweglichkeit ist eine der zentralen Ideen für das Mobiliar des berühmten und viel rezipierten Klubs und die multifunktionale Rednertribüne ein Teil davon.
Beinahe 90 Jahre danach entwickelt Carola Dertnig, die an der Akademie der bildenden Künste in Wien Performative Kunst unterrichtet, ein mobiles Redesign für die Bühne. Obwohl sie aus mehreren Elementen besteht (Tafel, Pult, Scherengitter), ist die Bühne faltbar und kann auf einem Handwagen praktisch verstaut werden. Das klappbare und fahrbare Podest als Gegenentwurf zur starren Kanzel – Flexibilität statt Dogma –, das ist rein formal schon eine starke Ansage der Künstlerin, deren Arbeiten immer einen Hauch feinen Humors zeigen. Carola Dertnig arbeitet in verschiedenen Medien; Themen wie Körper, Inszenierung, Sprache oder Text stehen im Zentrum, innovativ umgesetzt, oft mit historischen Bezügen oder Wiederentdeckungen verbunden (z. B. Tanzporträt Harald Kreutzberg – 10 Posen, 2014).
Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, ob die Tribüne des Arbeiterklubs in Paris jemals in Verwendung war. Die Arbeit von Carola Dertnig wurde bis dato mindestens zweimal öffentlich als Bühne genutzt: 2012 anlässlich von Realness Respect in Graz und 2013 in Wien im Rahmen der Festwochen-Ausstellung Unruhe der Form. Bei der Performance Tacheles Speech in Wien bezog sie sich auf einen Text Donald Judds von 1989 über die seltsame Grünanlage, einen Nichtort, hinter dem Secessionsgebäude: „Ein Nicht Ort/Ein Ort ohne Funktion oder genaue Zuschreibung, nein, der kann doch gar NICHTS sein. Und was muss schon unbedingt sein. Aber es schafft Pausen. Verschnaufpausen von eigentlich überflüssigen Rangeleien“ (Carola Dertnig). Dabei ist die Skulptur gleichermaßen Mittel wie Mittler. Ursprünglich als Gebrauchsgegenstand zur politischen Bildung für die Freizeit des Kollektivs entworfen, ist diese Bühne heute Teil einer gemeinschaftlichen Wahrnehmung und mehr als ein funktionalistisches Requisit. Entstanden in einer Zeit, in der mit Frauen wie Warwara Stepanowa oder Ljubow Popowa auch die Rolle der Künstlerinnen neu definiert wurde, wird sie uns von der feministisch engagierten Carola Dertnig als bespielbares Objekt gezeigt, das für die andauernde Gültigkeit moderner Ideen steht.
Heike Maier-Rieper, 2015
WeiterlesenAusstellungen
art&function_performance, Kunsthaus Muerz, Mürzzuschlag, 2024
Now, At The Latest. Videos und andere Sehenswürdigkeiten aus der evn sammlung, Kunsthalle Krems, Krems, 2015
Publikationen
evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 100–105
Now, At the Latest, Maria Enzersdorf 2015, S. 3