Picknick im Dunklen
Nilbar Güreş
Mischtechnik auf Stoff
86 × 126 cm (gerahmt)
2013
Ankauf 2013
Inv. Nr. 0256
Nilbar Güreş stellt zentrale Fragen zu gesellschaftlich relevanten Themen: Migration, Identität, Politik, Umgang mit Traditionen. In ihren Performances, Videos, Fotografien und Objekten zeigt die Künstlerin eine stets widerständige Haltung zu Normierungen aller Art. Mit subtilem Humor kämpft sie temperamentvoll und engagiert gegen erstarrte Systeme. Einzelne Schicksale werden empathisch und achtsam behandelt, reflektiert und in einen weiteren gesellschaftspolitischen und sozialen Kontext gesetzt.
Die Fotografien aus der Serie Open Phone Booth zeigen Szenen eines alevitisch-kurdischen Dorfes in der Provinz Bingöl im Osten von Anatolien. Es ist das Heimatdorf des Vaters der Künstlerin, das ihr als Besucherin seit ihrer Kindheit vertraut ist. Lange Zeit war es von sämtlicher Infrastruktur abgeschnitten, Telekommunikation zum Beispiel war bis in die 1970er-Jahre nur mit Hindernissen möglich: Anrufe konnten einzig mit dem Telefon des Dorfvorstehers getätigt oder empfangen werden. Seit dem Einzug der Mobiltelefonie hat sich dies zwar geändert, die topografische Lage des Dorfes führt jedoch bis heute zu Einschränkungen. Filme und Fotografien aus Nilbar Güreş’ Serie zeigen Bewohnerinnen und Bewohner, alle namentlich bekannt, auf dem Weg zur „offenen Telefonzelle“ auf einem dorfnahen Hügel. Bildaufbau, Sujets und Farbgebung der Fotografien sind von bestechender symbolischer Poesie, die man – wenn man nicht genau beobachtet – auch sozialromantisch verklären könnte. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. Nilbar Güreş bezieht Gegenwart und moderne Sozialisation sowie aktuelle bis brisante Geschehnisse in einem Maße ein, dass eine kritische Wahrnehmung vielfach politisch geprägter Realitäten geradezu herausgefordert wird.
Das gilt auch für die großformatigen Textilbilder der Künstlerin. Picknick im Dunklen ist eine Collage auf schwarzem Stoff. Schon dieser kulturell aufgeladene Bilduntergrund allein evoziert Fragen zu Religion und Geschlechterrollen. In den weiten Bildraum appliziert, malt und zeichnet die Künstlerin zarte Elemente voller märchenhafter Metaphorik und enigmatischer Gestik. Ein stehender Fuchs oder Hund, eine Frau in rosa Kleid und Kopftuch, ein Baum voller Kugeln, Sichelmond und Wölkchen inklusive. Doch die Szenerie entschlüsselt sich auch zeitgenössisch: Ein TV-Gerät bestrahlt Tier und Frau, diese scheint zudem an den Fußgelenken gefesselt zu sein. Eine Tafel mit Konnotationen von Sexualität, Gewalt und prekären Lebenswelten. Und in der symbolhaften Darstellung liegt, wie bei Märchen, ein Schlüssel zur weiteren Interpretation.
Heike Maier-Rieper, 2015
Publikationen
evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 155–159