Ohne Titel (Gorbachov)
Anna Jermolaewa
Leuchtkasten und Fotografie
Edition 2/3 + 2 AP
60 × 110 × 20 cm
2009
Ankauf 2013
Inv. Nr. 0259
Die Kunst von Anna Jermolaewa sensibilisiert für Absurditäten. Die Künstlerin, die 1989 als Aktivistin einer Oppositionspartei aus Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, nach Österreich fliehen musste, zählt zu den prägnantesten Gestalten der Wiener Kunstszene. Sie arbeitet mit Video oder Fotografie, beides Medien, die den realistischen Erzählungen, immer auch geprägt von eigenen Erfahrungen, entgegenkommen. Zur Nüchternheit der Beobachtungen gesellt sich mit starker Symbolkraft eine „metaphorische Dimension“ (Vitus Weh in Frieze, Nr. 8/2013). Das gilt in besonderem Maß auch für das Werk in der evn sammlung.
Es gehört zu den „Reisefotos“, einer offenen und unregelmäßigen Serie von visuellen Notizen, die die Künstlerin in Leuchtkästen einsetzt. Wären die Fotos nicht so perfekt komponiert, könnte man sie wegen der Zufälligkeit ihrer Entstehung Schnappschüsse nennen. Im schimmernden Licht des Kastens kann man eine Straßenecke erkennen und ein Plakat mit Michail Gorbatschow. Nach und nach entschlüsselt sich die Szenerie. Er sitzt in einer Limousine, die Financial Times in der offenen Tasche neben sich, und blickt sinnierend in Richtung Berliner Mauer. Das Plakat war Teil der Kampagne einer französischen Luxusmarke mit Fotografien von Annie Leibovitz. Celebrities aller Art ließen sich – pro bono, versteht sich – dafür ablichten. In Jermolaewas Foto ist das Plakat beschnitten, aus einem Hochformat, in dem auch „Gorbis“ rechte Hand sichtbar ist, wurde beinahe ein Quadrat. Auch fehlen schriftliche Werbebotschaften. Ist es ein bewusster Eingriff, um das Plakat im Foto genau an diese Stelle setzen zu können? Es ist neben einem Straßenschild, das symbolträchtig in die „Rue de Paradis“ weist, und einer Ampel affichiert. Anna Jermolaewa fotografiert die Szene ausgerechnet im Moment des „feu rouge“, des roten Signals. Die Künstlerin begegnet dem Plakat und damit dem ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei 2009 in den Straßen von Nizza. Ein Karnevalsumzug hat gerade stattgefunden, und jemand hat mit Luftschlangenspray einen zuckerlbunten Faden auf die Politikikone gesprüht. Ein Hinweis auf die seit 1989 neu gezogenen Grenzen Europas oder eine Verdoppelung des Feuermals?
Das erinnert an das im selben Jahr entstandene Video Kremlin Doppelgaenger. Ein Doppelgänger von Gorbatschow steht am Rande des Roten Platzes und wischt sich routiniert das markante Mal vom Kopf. Als das Video entstand, übte der ehemalige Genosse Michajlovic diesen illustren Nebenjob bereits 19 Jahre lang aus. Auch das Kremlin Palace in Antalya wird in dem Video vorgestellt. Vorrangig russische Kundschaft frequentiert das Hotel, einen monumentalen Kreml-Nachbau, der mit Poollandschaft statt Rotem Platz zum All-inclusive-Entertainment einlädt. Das Video wechselt zwischen dem türkischen „Kreml“ und dem Moskauer Platz, Interviews der Künstlerin mit Hotelgästen und dem gut gebuchten Fakepolitiker sind als zusätzliche und wichtige sprachliche Ebene eingefügt. Und beide Arbeiten, die aus Ost und die aus West, thematisieren Authentizität und Glaubwürdigkeit ebenso wie den Wandel von Gesellschaft und Machtverhältnissen. Russland als Partyzone? Pastis folgt Perestroika? Konsumlust und Nostalgie gehen 20 Jahre nach dem Mauerfall eigenartige Verbindungen ein und lassen Vergangenheit wie Gegenwart in obskurem Licht erscheinen.
Heike Maier-Rieper, 2015
WeiterlesenPublikationen
evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 185–189