Transferts d'énergie en système fermé
Adrien Tirtiaux
Buchstabentafel, Holz, Gummi und Plastik
120 × 90 × 2.5 cm
2010–2013
Ankauf 2014
Inv. Nr. 0265
Charleroi ist eine wallonische Stadt im Umbruch. Die ehemalige Stahl- und Kohlemetropole, circa 60 Kilometer südlich von Brüssel gelegen, ist seit den 1970er-Jahren durch den Niedergang ihrer Industrieanlagen in der Krise. Derzeit wird ein Stadtentwicklungsprojekt mit dem symbolischen Namen Projet Phénix umgesetzt. Baustellen und Leerstände sind damit allgegenwärtig und gemahnen mitten im finanzstarken Westeuropa an den Verfall Detroits. Adrien Tirtiaux, der an der Akademie in Wien Bildhauerei studiert hat, arbeitet seit 2009 mit dem Künstlerkollektiv Hotel Charleroi (außer ihm Hannes Zebedin und Antoine Turillon) an Gegenstrategien für die vernachlässigte kulturelle Landschaft. Das vielschichtige Projekt kombiniert ein Artist-in-Residence-Programm mit historischen Recherchen und Forschungen.
Adrien Tirtiaux verfügt über ein starkes zeichnerisches Werk, arbeitet aber auch konzeptuell, objektbezogen oder mit räumlichen Interventionen. Ein wichtiger Faktor in seiner Kunst ist die Beschäftigung mit Urbanismus, immer auch Moderne bzw. Modernismus reflektierend. Die Projekte an der Schnittstelle von Architektur, Soziologie und zeitgenössischer Kunst überprüfen die Realität und finden Strategien zur Veränderung. Die mehrjährige Auseinandersetzung und Ausstellungsreihe Charleroi is on my mind (2010–2013) widmet Tirtiaux den Fragen zu dieser Stadt. Transferts d’énergie en système fermé entstammt diesem Kosmos. Ursprünglich gab das Objet trouvé als Tariftafel in der Kantine einer inzwischen aufgelassenen Poststelle Auskunft über die Preise von Speisen und Getränken. Adrien Tirtiaux modifiziert über mehrere Jahre die beweglichen Buchstaben, Zahlen und anderen Zeichen und entwickelt immer neue Kombinationen poetischer Zwei- bis Dreizeiler. Ein Prozess, der inhaltlich auf die Region eingeht (Gedanken für Charleroi). Auch der Titel des Objekts bezieht sich auf die ständige Überarbeitung und Transformation – die Übertragung von Energie in einem geschlossenen System. Durch die Benutzung von Vorhandenem, Upcycling sozusagen, entsteht Neues. Durch die ausschließliche Verwendung des vorhandenen Materials und die damit verbundenen Lücken im Zeichensatz formieren sich einzelne Wörter und Sätze zum Bild. In mehreren Sprachen, auch als Hommage an die multikulturelle Region, ist das Readymade in seiner ästhetischen Anordnung somit auch ein Beispiel eines konkreten Bildgedichtes.
Seit dem Verkauf der Tafel blieb der damals aktuelle Zustand konserviert. Im Unternehmen EVN angekommen ist das wie beiläufig an die Wand gelehnte Meisterstück auch eine Metapher für ökonomische wie politische Verantwortung. Möge die im postindustriellen Textobjekt ausgerufene „révolution des frites“ den „cimetière des idées“, den Friedhof der Ideen, überwinden!
Heike Maier-Rieper, 2015
WeiterlesenAusstellungen
Now, At The Latest. Videos und andere Sehenswürdigkeiten aus der evn sammlung, Kunsthalle Krems, Krems, 2015
Publikationen
evn collection. 95–2015 Jubilee, Wien 2015, S. 354 ff
Now, At the Latest, Maria Enzersdorf 2015, S. 34, 36, 44