The Sick Rose
Elaine Reichek
Leinen, handbestickt
42.5 × 52.1 cm
2016
Ankauf 2019
Inv. Nr. 0410
Von William Blakes The Sick Rose sind Literaturexperten ebenso besessen, wie Rock’n’Roll Ikonen. Die Faszination dieses vermeintlich simplen Poems liegt im beunruhigenden, leicht irritierenden Appeal einiger wenigen Zeilen:
O Rose thou art sick.
The invisible worm,
That flies in the night
In the howling storm:
Has found out thy bed
Of crimson joy:
And his dark secret love
Does thy life destroy.
Das Gedicht aus Blakes Songs of Innocence and Experience gehört zu den bekanntesten Versen der englischen Literatur, wurde von Benjamin Britten und Michael Nyman vertont, von Allan Ginsberg interpretiert, es inspirierte Patti Smith, Bob Dylan und Jim Morrison. Auch der Held von Jim Jarmusch’s Western Dead Man, ein schlichter Buchhalter, gilt dem Native Indian Nobody als Reinkarnation William Blakes.
Blake, ein ausgebildeter Kupferstecher, experimentierte mit Techniken, um Text und Bild zu verbinden und er erfand eine neue Drucktechnik, die Reliefradierung. Sie erlaubte es ihm, Schrift und Illustration auf einer einzigen Metallplatte zu vereinen und damit den Druckvorgang zu revolutionieren.
Sprache und Bild prägen auch das Werk der New Yorker Künstlerin Elaine Reichek (1943). Formal und konzeptuell geht es um Nadel und Faden. Die Künstlerin stickt Textpassagen, Embleme, Muster, aber auch naturalistische Motive meist auf gefärbtes Leinen, auf bunte Baumwolle, gelegentlich auf Papier.
Für The Sick Rose verwendet Reichek die Originaltypografie Blakes, inklusive Majuskel und den hohen Versalien der ersten Zeile. Sie nimmt damit das Schriftbild auf den Seiten der neunzehn bzw. sechsundzwanzig Gedichten des 1789 erstmals erschienenen Werks auf. Mit einem durch vier Löchern geführten, dünnen Fädchen weist Reichek auf Konventionen des Buchdrucks hin und darauf, dass Blakes Lyrikzyklus als gebundener Bildband, als Graphic Novel avant la lèttre produziert wurde. Der schwarze Wollfaden, mit dem sie schreibt/stickt, franst nach allen Seiten hin aus und lässt an die Technik der Kaltnadelradierungen denken: im Gegensatz zu den scharfen Kanten der geätzten Radierung erzeugen samtige Gratschatten als weicher Begleitton malerische Effekte.
Kultiviert und smart schweben die Arbeiten im Limbo zwischen der Gutenberg Galaxis und dem Internet Zeitalter. Reichek demonstriert, wie man das Textile – als Material, als Technik und als Medium – vom Stigma des Kunsthandwerks befreit und setzt eine als zutiefst weiblich empfundene, handwerkliche Technik als Analyseinstrument ein. Bildende Kunst und Literatur, Musik und Theater, Philosophie, Geschichte und Geschichten aller Epochen verbindet Reichek zu eklektischen Arrangements, untersucht etwa die archetypischen Figuren antiker Mythen und ihre Darstellung. Immer hat sie dabei Gesellschaft und Politik, Rollenverhältnisse, den Feminismus und die Frauenbewegung von heute im Blick.
Ob mit der Hand oder der Nähmaschine: Nähen, Sticken und Weben gibt ein eigenes, ein gemessenes Tempo vor. Es ist langsamer als Handschrift, oder der Computer. Und komplexer, denn die Methode des Durchziehens von Fäden ergibt immer eine Vorder- und eine Rückseite. Alles hat zwei Seiten, ist klar lesbar oder geheimnisvolle Camouflage.
Brigitte Huck, 2021
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Wallpaper #4, Wien 2021, S. 30 ff (s. p.)