Wenige Augenblicke später...
Ingeborg Strobl
93 Aquarelle auf Papier, Papierskulptur, 2 Fotokopien, kaschiert, Sockel und Vitrine
140 × 41 × 41 cm
1999
Ankauf 2009
Inv. Nr. 0179
Das Kunsthaus Bregenz, ein Meisterwerk des Architekten Peter Zumthor, stellt Künstlerinnen und Künstler vor große Herausforderungen. Die hohen Räume mit Sichtbetonwänden – eine Art Opernbühne für bildende Kunst – verlangen nach großen Gesten und monumentalen Effekten. 1999 war mit Ingeborg Strobl eine „Kammermusikerin“ der Kunst eingeladen, die Kleinformate und feine Nuancen liebt und wenig hält vom dramatischen Auftrumpfen, sondern eine Poetik der Beiläufigkeit bevorzugt.1 Strobl löste die Aufgabenstellung doppelbödig: Sie stellte in eines der Stockwerke 25 Sockelvitrinen in streng geometrischer Anordnung, einerseits raumgreifend, andererseits eine Maßnahme, mit der die Intimzone der präsentierten Werke beschützt wurde. Dabei handelte es sich um Arrangements von allerlei kleinen Merkwürdigkeiten, die sich im Lauf der Zeit in Strobls „Wunderkammer“ angesammelt hatten: Naturalien und Artefakte, Textzettel und Kleinodien aller Art. Zum Teil lagen auch eigene Werke, zum Beispiel winzige Aquarelle, in den Vitrinen. Aus dem disparaten Material komponierte Ingeborg Strobl Skulpturen auf Zeit. Zur Ausstellung meinte die Künstlerin: „Jede Vitrine ist eine Welt für sich, im weiteren Sinn literarisch, im engeren Sinn skulptural.“
Zehn Jahre später fragte der EVN Kunstrat an, ob es möglich sei, einige der in Bregenz gezeigten Objektcollagen zu erwerben. Strobl entschloss sich zu einer Mischung aus Rekonstruktion und Neukombination. Natürlich mussten wieder spezielle Vitrinen angefertigt werden, die erst jene Überhöhung bewirken, deren es bedarf, um den inszenierten Kleinigkeiten die notwendige Aura zu geben und damit Triviales in Kunst zu verwandeln. Auch wenn die Komponenten ihrer poetischen Wahlverwandtschaften oft banal wirken, sind die assoziativen Kombinationen nie zufällig. Strobl zelebriert geradezu das Auswählen, bei ihr immer ein minutiöser, penibler Prozess. Und auch wenn ihre Titel ironisch und leichthin gesagt anmuten: Es sind letztlich die großen Themen, mit denen sich Strobl befasst – zum Beispiel „Natur“ und „Künstlichkeit“ bzw. deren Beziehungen zueinander, zum Beispiel Kritik am Konsumismus und an gesellschaftlichen Praktiken wie Massentierhaltung oder die scharfe Beobachtung von Veränderungen im Alltag, aus dem ständig Kulturtechniken, ästhetische Details (etwa Typografien) oder vertraute Materialien verschwinden.
Im Fall der erworbenen Arbeiten geht es in einem übergeordneten Sinn auch um grundlegende Fragen des Ausstellens, also um „Kunst und Präsentation“. So bei einer der drei Kleinskulpturen (die „Skulptur“ löst sich fast auf, der Begriff aber bleibt), die, nüchtern und präzise, aus einem Zeitungsartikel und einem bemalten Stück Holz besteht. Oft haftet den Titeln etwas Seltsames an. Manche, wie Allgemeine Physik, deuten an, dass es bei allen Arbeiten von Ingeborg Strobl immer um Gott und die Welt geht. Wichtig dabei ist, dass zwischen Titel und Werk eine Spannung entsteht. Physik und Keramik: Dazu ließe sich sagen, dass sich die Künstlerin mit naturwissenschaftlichen Phänomenen (zum Beispiel Wetter und Rinderzucht) gut auskennt und dass ein Keramik-Studium im Wien und London der 1970er-Jahre ihr Einstieg in die Kunst war. Mögen sie auch karg anmuten: Zumindest eines der drei Vitrinen-Arrangements bietet der Sammlung üppigen Zuwachs, nämlich jenes, das beinahe 100 (allerdings sehr kleine) Aquarelle enthält. Erinnert sei noch an die EVN Weihnachtskarte von 1997, auf der Strobl einen echten Tannenzapfen mit einem glitzernden Christbaumtannenzapfen kombinierte. Auch das war, zumindest für den Zeitraum des Fotografierens, eine temporäre Skulptur.
Wolfgang Kos, 2011
1) Ingeborg Strobl. Einige Gegenstände. Und Sonnenuntergang, 30. Jänner – 5. April 1999, Ausstellung im Kunsthaus Bregenz.
Ausstellungen
small medium large. Skulpturen und Objekte aus der evn sammlung, evn sammlung, Maria Enzersdorf, 2022
Wallpaper #1, evn sammlung, Maria Enzersdorf, 2018
Publikationen
evn collection. 2006–2011, Köln 2011, S. 290–295