Ohne Titel
Yuri Leiderman
Collage und Kunststoffinkrustation auf Papier
38 × 50 cm
2005
Ankauf 2009
Inv. Nr. 0192
Im Jänner 2010 wandert eine bunte Gruppe durch das winterliche Amsterdam. Auf Stangen werden großformatige Fotos von Anne Frank und ihrer Familie hochgehalten, auch ein Podest mit bemalten Pilzskulpturen wird mitgeführt, ständig hört man „Rhabarber, Rhabarber“-Rufe. Ein absurdes Spektakel. Eine Collage von Yuri Leiderman aus dem Jahr 2005 nimmt diese Aktion bereits vorweg. Ihr Titel Anne Frank’s father and mushrooms of consciousness expansion (Geopoetics-2) verweist neben bewusstseinserweiternden Pilzen auch auf den literarischen Begriff der Geopoetik1, den Leiderman für eine Serie von performativen Installationen verwendet.2
Leiderman, ein gebürtiger Ukrainer, der im Moskau der 1980er-Jahre technische Chemie studierte und die dortige Untergrundszene mitgestaltete3, geht in seinen Arbeiten eine enge Verbindung von Literatur, Aktionskunst und bildender Kunst ein. Geopoetik, die eigentlich die Beziehungen von geografischen Räumen und literarischen Konzepten zum Gegenstand hat, wird bei ihm visuell bzw. aktionistisch. Vieles ist in den Collagen bereits angedacht, man kann sie als Bühnenbildentwürfe sehen. Die Bildsprache ist übersichtlich und bedient sich gängiger Motive oder Stereotype eines global verständlichen Bildgedächtnisses. Realistisch gezeichnete Figuren verschiedener Herkunft, oft in Landestracht, werden an andere Orte oder in fremde Situationen versetzt. Nationale Identität wird konstruiert, löst sich aber durch teilweise groteske Übersteigerung wieder auf. In den Performances können diese Figuren und Symbole real werden, doch in der herausfordernd frechen Kombination mit all den anderen Elementen wird die Wirklichkeit erst recht zur Konstruktion und Provokation. Es steckt keine Logik in den Darstellungen, wiewohl sie oft auf wissenschaftlichem Material beruhen. Sie ähneln – wie etwa die realistische Rose – Metaphern, können und sollen aber nicht entschlüsselt werden. Yuri Leiderman: „Auf diese Weise entsteht unsere Geopoetik, in freiem und perversem Austausch mit Geopolitik: sie bedient sich der Energie der Weltereignisse, bringt aber nichts zum Ausdruck – eine Wirkungsmöglichkeit, die es schon vor Anbeginn der Welt gab und die es noch nach ihrem Ende geben wird.“4
Heike Maier-Rieper, 2011
1) Dazu näher: Magdalena Marszałek, Sylvia Sasse (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin 2010.
2) Derzeit gibt es 15 Serien, teils auch in verschiedenen Varianten. Von Geopoetics-2 z. B. gibt es eine Schanghai-Version (2004), eine Budapest-Version (2005), eine Birmingham-Version (2007), eine Moskau-Version (2010) und eben auch die beschriebene Amsterdam-Variante.
3) Bis 1990 ist Leidermann Mitglied der Gruppe „Medical Hermeneutics“ (mit Pavel Pepperstein und Sergei Anufriev)
4) Yuri Leiderman. Ensemblement, Le Quartier/Quimper 2004, S. 134.
WeiterlesenPublikationen
evn collection. 2006–2011, Köln 2011, S. 266–269