Resistance
Michèle Pagel
bricks, concrete
176 × 30 × 40 cm
2023
Acquisition 2023
Inv. No. 0457
Kunst ist, was auf dem Sockel steht – auch so eine Lebensweisheit. Das können etwa die Künstler*innen selbst sein, wie Gilbert und George als Singing Sculpture beim Tänzchen auf einem Couchtisch. Oder aber alles dreht sich um und der Sockel ist die Kunst, wie bei Constantin Brâncuși, für den beides aufs Gleiche hinausläuft, um die Grenzen zwischen Kunst und Alltag aufzuheben. Den 350 Tonfiguren der Schweizer Fischli/Weiss wiederum kann man allerhand unterschieben, um Plötzlich diese Übersicht zu haben.
Auch für die Königin des Sockels, Michèle Pagel, ist da alles offen. Ihre adipösen Karyatiden aus Gussbeton stemmen Zeichen und Symbole unserer Kultur und Zivilisation: Momente der Weltgeschichte ebenso wie Allegorien von leichtem Geist und schwerem Körper. Sie balancieren Bedeutungsvolles und Belangloses, egal. Das kann die coole Rolls-Royce-Kühlerfigur Spirit of Exstasy sein oder eine emporgestreckte geballte Faust, das Motiv der Skulptur Widerstand aus der evn sammlung. Die Geste für Solidarität, Stärke und Protest ragt aus einer brutalistischen Säule aus Beton und verbindet politische Symbolik entschlossen mit einem Holzprügel, wie ihn die Log Lady aus Twin Peaks mit sich führt.
Die in Wien lebende Künstlerin Michèle Pagel wurde 1985 in der DDR geboren, als man sich dort noch mit dem „real existierenden Sozialismus“ abplagte. Das Echo des Arbeiter*innen- und Bauernstaats ihrer Kindheit, der dortige Systemwandel in ihrer Jugend und die Studienzeit auf den offeneren, wenn auch kapitalistischen Terrains von Milano und Wien hallt in Skulpturen wider, die das scheinbar Unvereinbare, Diskrepante zu schrägen, widersprüchlichen Tableaus fügen. Unter dem Titel Himmel voller Geigen hängt schon mal eine Galgenschlinge am Luftballon.
Pagels Herstellungsmodus meidet das verliebte Kneten und Modellieren von weichem Material, sie erfreut sich vielmehr am Zersägen von Mauerziegeln, am Zerreiben und Zertrümmern, klebt und klappt die Teile aneinander, schneidet, bemalt und glasiert sie, trägt Mosaikverzierungen und – wo’s notwendig ist – einen Hauch Glitzer auf. Die Stoffe der physischen Welt, Metall, Keramik, Ziegel, Zement schüttelt sie und rührt sie mit ein paar vertrockneten Yuccas ab. Neu zusammengesetzt, ergeben sich: Papagei – Schreibmaschine – Schulbank, Geier – Bauhaus – Schirmständer, Barhocker – Shrimps – Bierflasche.
Tief greift sie in die Kiste der Moderne: Dort warten auf sie die Readymades, die surrealistischen objets trouvées. Eher wertfreie Dinge, ein DDR-Fliesentisch etwa, ein Supermarkt-Einkaufswagerl, ein Türgriff, eine Damenhandtasche – das, was ein gezielter Tauchgang in die Trödelläden dieser Welt zutage fördert bzw. was so übrigbleibt von unserer Gesellschaft: von den Profiteur*innen und ebenso den Verlierer*innen.
Ein Repertoire kraftvoll und subversiv, pittoresk und unerhört witzig. Kompromisslos, anarchistisch, cool. Avantgarde, was sonst?
Brigitte Huck
Publications
Michèle Pagel. They Paved Paradise, Vienna 2023, p. 15